Liebe Leserinnen, liebe Leser,

in diesen letzten Tagen des Jahres 2022 werden wir im Fernsehen und in den Zeitungen von Jahresrückblicken überschwemmt. Mit Bildern von brennenden Wäldern und zerstörerischen Wasserfluten, mit Bildern vom Krieg, von zerbombten Straßenzügen, von Familien auf der Flucht, von Menschen, die in U-Bahnstationen ausharren, von schreienden Kindern inmitten von Verletzten und Toten. Und man könnte noch unzählige Bilder der Angst und des Schreckens aus diesem zu Ende gehenden Jahr aufzählen.

Ich erinnere mich, wie nach dem Massenmord an 77 Jugendlichen in Norwegen im Jahr ein Gottesdienst gehalten wurde. Überlebende wurden interviewt. Ein Mädchen sagte: „Vielleicht hilft es mir, die anderen Bilder in meinem Innern wegzubekommen“

Deshalb feiern wir Weihnachten, Jahr für Jahr, um die Bilder des Schreckens und der Angst in unserem Innern wegzubekommen. Deshalb begehen Menschen mit einem enormen Aufwand dieses Fest, jedes Jahr neu. Und deshalb müssen wir Weihnachten feiern, Jahr für Jahr, trotz aller Kommerzialisierung und Vermarktung des Festes. Weil die Weihnachtsgeschichte ein Bild gegen die Bilder des Schreckens bereithält, weil Weihnachten unsere Sehnsucht nach Bildern beantwortet, mit denen wir leben können in einer Welt, in der Menschen einander Angst machen und die Hölle bereiten können.

Die uralte Geschichte mit der immer gleichen einfachen Ausstattung: Ein Stall, darin ein Ehepaar und ein Neugeborenes. Das ist die ganze Szene, die Geborgenheit ausstrahlt und Frieden vermittelt. Ein Bild, das in mir etwas anrührt und tröstet, sodass ich weiß: mit diesem Bild kann ich leben, dies Bild hilft mir, weiterzugehen – trotz der vielen Bilder der Angst, die ich um mich sehe und die ich in mir trage.

Ja, feiern wir Weihnachten, um die anderen Bilder in unserem Inneren wegzubekommen. Nicht so, dass wir während der Feiertage die Bilder einfach wegschieben, so als gäbe es die darin gezeigte Wirklichkeit nicht. Nein, die Feiertage ermöglichen nur eine kurze Feuerpause, wenn überhaupt, in den großen Kriegen der Welt und in den kleinen Kriegen unseres Lebens. Aber es kann uns helfen, wenn wir das weihnachtliche Bild vom Kind in der Krippe mit seinen Eltern im Stall in den Alltag mitnehmen. Dort gehört dieses Bild ja hin. In den Alltag.

Dort wo ein Mensch sich vor den Schmerzen einer Krankheit fürchtet.

Dort wo ein Mensch Angst hat vor der nächsten dunklen Biegung seines Lebens.

Dort wo Menschen Ängste um ihr Leben ausstehen in Krieg und Gewalt.

Dort wo Menschen in Angst vor der Zukunft leben.

Merkwürdig ist, dass das Bild von dem Kind im Stall der Inbegriff von Geborgenheit und Frieden ist, obwohl die Szene umgeben ist von lauter Unwirtlichkeit und Härte. Das Kind ist der Armut ausgeliefert, der Not der dürftigen Umstände, dem Krieg, der damals unter dem beschönigenden Namen Pax Romana die Lande überzog. Das Kind ist bedroht und gefährdet – ja, es passt ja nur zu gut in die Bilder der Angst und des Schreckens dieses  zuendegehenden Jahres und aller Jahre, die vorangegangen sind.

Das Kind passt nur zu gut in unsere Lebenswirklichkeit, in der Menschen sich gegenseitig in Angst und Schrecken versetzen. Denn es war dem Hass und der Feindseligkeit der missgünstigen und machtbeflissenen Zeitgenossen ausgesetzt. 

Dies Kind kam, damit auf Erden Frieden werden kann. Wenn es erwachsen sein wird, wird es von der Feindesliebe reden, ohne die kein Friede werden kann. Jesus, der Mensch Gottes. Jesus, das Bild Gottes und zugleich das Bild des wahrhaften Menschen, der bereit ist, den oft steinigen Weg der Feindesliebe zu gehen, der bereit ist, aufs Angstmachen zu verzichten, auf das ganze Arsenal der Muskelspiele der Angst und Gewalt, und in Liebe und Geduld dem Frieden zuzuarbeiten.

Das Kind kam, damit wir künftig andere Bilder malen und entdecken könnten: Bilder der Güte und der Geborgenheit. So soll das Bild von der Krippe mit dem Kind hineinreichen in unseren Alltag, soll weitergemalt werden in unseren Küchen und Büros, in unseren Einkaufsstraßen und Schulen. Vielleicht wird man inmitten der Bilder des Schreckens, der Gleichgültigkeit und der Gier etwas suchen müssen, doch es gibt sie: Bilder davon, wie etwas heil geworden ist deinem Leben, wie das Schicksal anderer dich berührt, wie du es nicht mehr nötig hast, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, Bilder der Zuversicht, des Vertrauens, des Friedens.

Die evangelischen und katholischen Kirchen in Leimen, Nußloch, Sandhausen und St. Ilgen wünschen Ihnen ein gesegnetes und friedvolles Weihnachtsfest und für das neue Jahr Zuversicht und guten Mut! Bleiben Sie behütet!

Helga Lamm-Gielnik, Pfarrerin der evangelischen Kirchengemeinde St. Ilgen