… hat die jüdische deutsch-schwedische Schriftstellerin Nelly Sachs einmal gesagt. Sehnsucht ist ein starkes Gefühl. Neben der realen Welt in der ich lebe, eröffnet sie mir eine Welt der Möglichkeiten. Was anders, besser sein könnte und was mir fehlt in meinem Leben, sei es ein Ort, eine Person oder auch eine bestimmte Zeit. Ein bisschen wie Heimweh kann die Sehnsucht sich auch anfühlen. Fruchtbar wird sie dann, wenn sie wie eine Brücke zwischen den von mir ersehnten Möglichkeiten und meinem realen Leben funktioniert. Wenn ich nicht nur sehne, sondern auch handele, reale Wünsche daraus formuliere und konkrete Schritte gehe, damit sie nicht nur Fantasie bleibt. Und doch bleibt immer die Gefahr, dass sich in meiner sehnsüchtigen Vorstellung alles viel einfacher, erfüllter und glücklicher anfühlt, als das reale Leben es jemals sein kann.

Ob die Jünger Jesu (Wenn ich von den Jüngern Jesu schreibe, dann denke ich auch immer die Frauen mit. Denn auch diese sind mit Jesus mitgegangen und haben ihn bis zum Schluss begleitet, wie zahlreiche Bibelstellen belegen) das Gefühl der Sehnsucht kannten? Ich bin mir ziemlich sicher, sonst wären sie nie mit Jesus mitgegangen. Hätten nicht alles zurückgelassen, ihre Familien, ihre Arbeit, ihr vertrautes Zuhause. Damals, als alles anfing und sie Jesus das erste Mal gesehen und gehört haben, muss etwas in ihnen passiert sein. Etwas in ihrem tiefen Inneren, das sie dazu bewogen hat, mit Jesus zu gehen – vielleicht, weil sie auf ein neues Lebensgefühl gehofft haben, auf neue Perspektiven, die sie glücklich machen und ihnen einen neuen Blickwinkel auf das Leben eröffnen werden. Was Jesus in der Bergpredigt den Leidtragenden, den Barmherzigen, den Sanftmütigen, den Friedfertigen versprochen hat, das galt doch ihnen!

Und dann dieses unerwartete und schwere Ende ihres Herrn, gefolgt von einem eigentlich unmöglichen Wunder, das sie in ihrem trostlosen Zustand kaum begreifen konnten. Und als sie sich ihrem Herrn erneut annähern, realisieren, dass er wieder – wenn auch anders als zuvor  – in ihrer Mitte ist: Der endgültige Abschied. Bitte bleib doch! Doch diese intensive und besondere Zeit mit Jesus ist schon wieder vorbei und sie müssen tatenlos hinnehmen, wie er ihren Blicken entschwindet.

 

Der Sonntag Exaudi liegt zwischen Himmelfahrt und Pfingsten und er wird gerne als „Interimssonntag“ bezeichnet. Es ist sozusagen ein Zwischensonntag der Erwartung, ein Sonntag des „noch nicht“ und doch schon voller Hoffnung und Sehnsucht seins.

Für mich stehen an diesem Tag die Jünger Jesu im Mittelpunkt und ihnen gilt mein Interesse. Wie muss sich dieses Zurückbleiben anfühlen? Vielleicht wie ein Film im Schnelldurchlauf – die Augen versuchen das Geschehene zu sehen und zu verstehen, aber die Seele kommt nicht mit. Jesu Verhaftung, sein Tod, seine Auferstehung, dann die erneute Begegnung, die die Hoffnung in ihnen keimen lässt, dass jetzt das Große doch noch kommen wird – das alles geht doch viel zu schnell. Für den Sonntag ist ein Text aus dem Johannesevangelium vorgeschlagen, der zu den sog. „Abschiedsreden Jesu“ gehört. Jesus erzählt den Jüngern – kurz nach ihrem Einzug in Jerusalem – was sie alle erwarten wird, aber er tröstet sie auch und gibt ihnen Kraft für die Zeit, in der sie sich verlassen fühlen werden. Denn im johanneischen Werk weiß Jesus von Anfang an um seinen Weg, blickt im Gegensatz zu den Jüngern auf das große Ganze und erlebt seinen Weg als gegebene Notwendigkeit. Aber ihm ist klar, dass seine Jünger das nicht so sehen können und dass sie es nicht einfach haben werden, wenn er nicht mehr da ist. Dass sie ihn vermissen werden, sie sich verloren fühlen werden, in ihren Grundfesten zutiefst erschüttert sein und dass sie Feindschaft erfahren werden. Sie haben schließlich alles für ihn und seine Botschaft aufgegeben.

Und so beginnt sie nach Jesu Himmelfahrt wieder: Die Sehnsucht der Jünger. Aber in welche Richtung lenkt sie die Jünger? Wie soll es denn werden? Wieder wie früher? Bevor sie Jesus kennen gelernt haben? Sicher nicht, denn dafür hat er sie zu sehr verändert, hat er ihr Menschen- und Gottesbild zu sehr geprägt und seine Auferstehung sie zu sehr bestärkt, als dass sie wieder in ihr altes Leben zurückkehren wollten (und selbst wenn sie es gewollt hätten, ist es doch fraglich, ob das überhaupt möglich gewesen wäre).

Also schauen die Jünger nach vorne und erinnern sich endlich an das, was Jesus ihnen vor einiger Zeit – noch vor seiner Verhaftung – in seinen Abschiedsreden mit auf den Weg gegeben hat: „Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster (oder andere Übersetzungen: Beistand, Fürsprecher) nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, werde ich ihn zu euch senden. Und wenn er kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in aller Wahrheit leiten.“ (Johannes 16, 7+13). Den genauen Sinn werden die Jünger wahrscheinlich nicht verstanden haben, aber vielleicht so viel: Da kommt etwas/jemand, der euch beisteht und euch einen Weg aufzeigen wird und zeigen wird, was richtig ist. Also haltet durch. Denn Jesus will seinen Jüngern mit diesen Worten deutlich machen, dass es ihnen nützt, wenn er weggeht und dass die Feindschaft der Welt nicht die ganze Wirklichkeit ist und auch nicht die entscheidende. Erst durch sein Gehen kommt der Tröster, bzw. der Beistand und er bringt das Werk Jesu zu seiner Wirkung und die Zurückgebliebenen zu einer neuen Gemeinschaft, die eine Zukunft hat.

 

Am Sonntag Exaudi gilt es für mich, weder die Himmelfahrt zu wiederholen, noch das Pfingstfest vorwegzunehmen. Es gilt, die Zeit zwischen dem Abschied und dem Kommen des Neuen zu erleben und auszuhalten. Wir können das heute, denn etwas als eine „Zwischenzeit“ bezeichnen, kann man immer nur im Nachhinein. Die Jünger konnten sich damals nicht damit trösten, dass sie nur eine gewisse Zeit überstehen müssen, bevor das Pfingstfest ihnen durch den Heiligen Geist ungeahnte neue Kräfte schenken wird. Sie wussten nicht, wie ihre Zukunft aussieht, sie konnten nur hoffen, dass das, was Jesus ihnen bei seinem Abschied versprochen hat, eines Tages wahr wird. Und das passt dann doch auch wieder in unsere aktuelle Situation. Wir können auch nicht sagen, was uns noch erwartet in den kommenden Monaten. Erst in geraumer Zeit werden wir auf das Jahr 2020 zurückblicken können, davon erzählen können, wie wir uns damals gefühlt haben, vielleicht ziehen wir sogar Bilanz und sind über unsere damals richtigen Entscheidungen froh und bitten für unsere falschen Entscheidungen um Entschuldigung.

 

„Alles beginnt mit der Sehnsucht“…Wonach sehnen Sie sich, sehnt ihr euch im Moment? Und das ist eine andere Frage, als die, was gerade tatsächlich möglich und realisierbar ist in dieser Zeit. Es ist eher die Frage, was ich brauche und wünsche, damit meine Seele und mein Herz sich (wieder) gut und geborgen fühlen können. Und dann mache ich mit der Sehnsucht im Gepäck einen vorsichtigen Schritt Richtung Realität, womöglich ist das ein oder andere ja auch schon in der Krise möglich.

Der heutige Sonntag lädt uns auch in besonderer Weise zum Bitten ein. Vielleicht können wir unsere Sehnsüchte in diese Bitte einflechten und darüber hinaus um die Erfahrung des Beistandes bitten, um die Erfahrung des nicht alleine seins in dieser Zeit – für uns und durch uns. Ich bitte um den Geist, den Jesus den Seinen versprochen hat, auch für uns, denn er hat bis heute die Kraft, uns und die Welt nicht nur zu trösten, sondern auch zu verändern.

Es grüßt Sie herzlich Ihre Pfarrerin Henriette Freidhof, die nun wieder im Dienst ist J.

 

Der „Kraichgaublick“: Unser Sehnsuchts- und Fluchtort bei drohendem Lagerkoller in der Coronazeit…