Liebe Gemeinde! Sie kennen vielleicht den Brauch, sich zum Neuen Jahr ein biblisches Wort, eine „Losung“ mit auf den Weg zu geben. Zumindest liegen die Losungen vielen evangelischen Gottesdiensten zum Jahreswechsel zugrunde. Land auf, Land ab wird heute und am morgigen Neujahrstag zu diesem wechselnden Leitvers aus der Bibel gepredigt. Die Jahreslosung 2018 stammt aus der Offenbarung des Johannes und lautet: „Gott spricht: Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst!“ (Offb 21, 6) Ähnlichen Charakter wie eine Losung hat die Widmung, unter der unsere tiefste Glocke auf dem Kirchturm erklingt: „O Land, Land, Land, höre des Herrn Wort!“ (Jer 22, 29) Denn: „Christus ist unser Friede“ (Eph 2, 14)?

Ob nun die Jahreslosung oder die geistliche Widmung unserer Glocken: Beide versinken sie im Jahreslauf schnell wieder unter der Hoheit der Meldungen und alternativen Wahrheiten, die täglich – oft schrill und laut – unsere Aufmerksamkeit fesseln wollen. Die Losung als hervorgehobenes Bibelwort steht immer exemplarisch für die ganze Botschaft der Heiligen Schrift. Ebenso versuchen unsere Glocken täglich, uns zur Andacht und zu regelmäßigen Pausen zu ermuntern. Ein kurzes Innehalten kann unsere Kräfte neu bündeln helfen. Wer den Tageslauf aufmerksam wahrnimmt, kann sich leichter in Gottes Schöpfungsordnung eingebunden fühlen. Und ich glaube: Wer sich bewusstmacht, wem er oder sie das Dasein verdankt, wird anders mit seiner Lebenszeit umgehen – egal ob sie reichlich vorhanden ist oder für die geforderten Aufgaben ständig als zu knapp bemessen erscheint.

Doch woher kommt die Tradition des Glockenläutens überhaupt? Und welche Wandlung hat dieses christliche Kulturgut im Lauf seiner Geschichte erfahren?

Erste Glockenmodelle, die zunächst geschmiedet und noch nicht gegossen wurden, sind seit dem 6. Jahrhundert in der christlichen Kirche beheimatet. Noch kleinere Vorläufertypen, Glöckchen und Schellen, gab es bereits in vorchristlicher Zeit, vor allem im Alten Orient. Das Gießen größerer Glocken ist zunächst in Frankreich und Italien nachgewiesen. Vor allem der Benediktinerorden nahm sich der Kunst des Glockengießens an. Mönche waren bis ins 13. Jahrhundert die einzigen zugelassenen Glockengießer. Erst danach entstanden auch weltliche Werkstätten. Das Amt des Küsters, Mesmers oder Kirchendieners entwickelte sich ebenfalls in dieser Zeit – zuvor durften die feierlich geweihten Glocken nur von Geistlichen geläutet werden.

Glocken waren zunächst Signalinstrumente, bei denen es auf die Eindeutigkeit und Unverwechselbarkeit ihrer Botschaft ankam. Ihre Namen, etwa „Posaune Gottes“ oder „große Ruferin“, verdeutlichten dies. Jede Glocke hatte ihre eigene Funktion – es gab Glocken, die nur bei Taufen, Trauungen, Todesfällen, dem Vater Unser oder anderen bestimmten Gebetsanlässen erklangen.

Das gleichzeitige Läuten mehrere Glocken war zunächst eine seltene Ausnahme. Nur zu besonderen Anlässen wie dem Besuch des Königs oder Landesherren oder in den Nächten vor den Hochfesten wurde – wie heute nur noch in der Neujahrsnacht üblich – mit allen Glocken „Schreck“ geläutet: hier ist noch der Hintergrund des Vertreibens böser Geister spürbar. Deshalb war es zunächst auch kein Problem, wenn die Glocken ursprünglich tonal nicht zueinander passten. Erst als im 13. Jahrhundert die Musik mehrstimmig wurde und man bei den Tonintervallen zwischen wohltönend und dissonant zu unterscheiden gelernt hatte, begann man dem Charakter der Läuteglocke als eines Musikinstrumentes größere Beachtung zu schenken: Die Glocken mancher Geläute erhielten intervallmäßig so saubere Tonhöhenabstände, dass man im Zusammenläuten unterschiedliche musikalische Klänge erzeugen konnte, die sich je nach den ertönten Intervallen dem Charakter der Festzeit des Kirchenjahres oder des Einzelfestes anpassen ließen. Viele alte „atonale“ Geläute wurden ab dem 15. Jahrhundert daher eingeschmolzen und durch moderne, auf eine Obertonreihe passende Geläute ersetzt. Dieser Entwicklung verdanken wir nicht zuletzt auch die Glockenspiele, in denen für jeden Halbton eine eigens dafür dimensionierte Glocke vorhanden ist.

Als bestes Glockenmaterial hat sich klanglich Bronze durchgesetzt, eine Legierung aus Kupfer und Zinn im Verhältnis von 4 zu 1. Die Menge der in den Glocken enthaltenen Bronze weckte im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Begehrlichkeiten – vor allem seitens des Militärs. So ließen Herrscher wie Zar Peter der Große oder Napoleon mehrere tausend Glocken zu Kanonen umgießen. Auch in der deutschen Geschichte gibt es solche Beispiele: Wie schon im ersten Weltkrieg davor, wurden im zweiten Weltkrieg ein Großteil der Glocken von den Kirchtürmen in Deutschland beschlagnahmt und nach Hamburg zum so genannten „Glockenfriedhof“ transportiert. Viele Gemeinden durften damals im Ort nur eine, nämlich die kleinste Glocke behalten.

Nach dem zweiten Weltkrieg erhielten dann viele tiefe Glocken bei den neu angeschafften Geläuten eine Widmung mit einer Ehrung der gefallenen Soldaten. So auch bei uns. Die zweittiefste Glocke in unserem Kirchturm trägt die Inschrift aus dem Philipperbrief: „Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn“ (Phil 1, 21). Und darunter: „Zum Gedächtnis aller Gefallenen und Verstorbenen zweier Weltkriege 1914-1918 und 1939-1945“. Diese Glocke erklingt aufgrund ihrer Widmung einzeln nur beim Totengedenken am Volkstrauertag.

Glocken sind laute, machtvolle Instrumente. Sie stehen im Ruf der Reinheit. Dementsprechend beeindruckend und überwältigend sind die Wirkungen, die man ihnen im Mittelalter zudachte. Man traute ihnen zu, zwischen Himmel und Erde zu vermitteln und die Ohren der Himmlischen zu erreichen. Die Menschen weihten sie dem Lobpreis Gottes. Und sie hofften andererseits darauf, Gott möge ihre Glocken so rein und einflussreich machen, dass ihr Klang sie vor den Übeln der Welt und der ewigen Verdammnis bewahren könne. Glockenklang war ihr Trost und Schutz, Zeichen äußeren und inneren Friedens. Zeugen dieser ehrfürchtigen Handhabung sind die Inschriften. Sie sind weit mehr als nur dekorative Beigaben. Sie bestimmen nicht weniger als Daseinsgrund und Endzweck der Glocken. Darum gibt der aktuelle Glockenprüfer unserer Landeskirche bis heute noch allen badischen Kirchengemeinden die Empfehlung, die Glocken nach ihren Widmungen einzusetzen. Wir tun das zum Beispiel mit der Glocke 3 bei den Läutezeiten am Tage. Es ist die zweithellste Glocke im Turm. Sie schallt das Motto aus: „Lobet den Herrn! Denn unsern Gott loben, das ist ein köstlich Ding.“ (Ps 147, 1) Unsere Gebetsglocke ist die kleinste im Geläut. Sie erklingt überwiegend im Gottesdienst, beim Vater Unser, bei den Taufen und bei Segenshandlungen wie der kirchlichen Hochzeit oder der Konfirmation. Sie trägt die Inschrift: „Seid fröhlich in der Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet!“ (Röm 12, 12)

Weil es bei den Glocken auf die Tonhöhe und deren Widmung ankommt, hatten manche von ihnen auch rein profane Aufgaben, nämlich die der Zeitangabe oder Signalgebung. Die Tatsache, dass auch diese weltlichen Glocken in Kirchtürmen installiert wurden, hing einfach damit zusammen, dass man die Glocken auf diese Weise in einem viel weiteren Umfeld hören konnte. Aber natürlich sind derartige Glocken auch von Stadttoren oder Rathaustürmen bekannt. Sie wurden zur Warnung vor Sturm, Feuer oder herannahenden Feinden verwendet. Sie dienten auch als Zeichen für den Beginn öffentlicher Veranstaltungen, wie eines Gerichtstermins, der Eröffnung eines Marktes oder das Verlesen von Verlautbarungen und Gesetzen.

Als ich in Bruchsal Klinikpfarrer war, wurde auf dem ursprünglichen Hospitalgebäude nach historischem Vorbild ein neuer Dachreiter errichtet. Es handelte sich um eine detailgetreue Nachbildung eines kleinen Glockenturms, der nach dem zweiten Weltkrieg baufällig geworden war und aus Kostengründen nicht repariert werden konnte. Er wurde stattdessen demontiert und eingemottet. An seiner Stelle hatte man das Dach dieses langen Gebäudes einfach mit einer durchgezogenen Linie des Dachfirstes geschlossen. Heute ist das Gebäude also wieder mit einem Turm in den originalen Proportionen zu sehen. Im Turm selbst hängt auch die alte Glocke wieder. War das Balkenwerk des Turms irgendwann verloren gegangen, hatte man die Glocke im Bruchsaler Schloss sorgsam verwahrt. Bei der Einweihung des Turmes wurde die alte Glocke zum ersten Mal wieder geläutet und über ihre historische Funktion informiert: Sie hatte vor ihrer Stilllegung überwiegend als Signalglocke gedient. Mit Hilfe der Glocke wurde der Arzt aus der Stadt herbeigerufen. Es war die Zeit, in der das Hospital zum Seuchenschutz noch außerhalb der Stadtmauer errichtet wurde und ein einziger Arzt das ganze Krankenhaus betreute. Dauerhaft vor Ort waren nur die Nonnen des Ordens der Vincentinerinnen, die die Kranken pflegten. Wurde der Arzt benötigt, kam er auf den Schall der Glocke hin aus seiner Praxis oder seiner Wohnung zur Hilfe geeilt.

Unter dem Glockenturm befindet sich bis heute eine kleine Kapelle, in der auch ich meine Gottesdienste anbot. Turm und Glocke hatten daher sicherlich in den Ursprüngen des kirchlich geführten Hauses auch geistliche Funktion, indem mit Glockengeläut zum Gebet oder zur Messe gerufen wurde.

Bei der Einweihung des Turms habe ich im Rahmen meines Grußworts auf diesen Zusammenhang hingewiesen und erntete betretene Blicke. Denn die wieder an alter Stelle installierte Anstaltsglocke durfte nur ein einziges Mal anlässlich der Eröffnungsfeierlichkeiten erklingen. Unterhalb des Glockenturms hatte ein Augenarzt seine Praxis eröffnet. Da er als Mieter für die Klinikleitung sehr lukrativ war, folgte man seiner Darstellung, dass das Schwingen der Glocke seine medizinischen Geräte und Messinstrumente negativ beeinflussen könne. Seitdem schweigt die Glocke vom Turm wieder, obwohl die technische Anlage funktional und ästhetisch genauso eingerichtet war, wie ursprünglich.

Die aktuelle Glockenkampagne der EKD greift den Slogan eines bekannten ursprünglich französischen Kanons auf: „Bruder Jakob, Bruder Jakob, schläfst du noch? Schläfst du noch? Hörst du nicht die Glocken? Hörst du nicht die Glocken? Ding Dang Dong, Ding Dang Dong.“

In einer Zeit, in der jeder sein eigenes Ziffernblatt oder den Chronometer im Display des Smartphones bei sich trägt, wo es längst deutlich lautere Geräusche und eine Dauerlärmkulisse gibt, wo Kopfhörer uns helfen, uns komplett von der Außenwelt abzuschotten, wo wir längst andere Signalgeber akustischer und visueller Art eingeführt und gesellschaftlich antrainiert haben, – in so einer modernen Welt drohen wir Menschen vielfach auch unsere geistliche Ehrfurcht vor der ursprünglichen Funktion der Glocken zu verlieren. Sie wollen uns zum Gebet, zur Gottesbetrachtung locken und dabei stets vor Augen führen, dass unsere Lebenszeit unverfügbar und vom Charakter her allenfalls geliehen ist. Glockenklänge sind religiöse Signale, die unseren Alltag begleiten. Sie tragen das Evangelium in den Bereich der weltlichen Abläufe und bewahren das Wissen davon, dass Gott der Herr aller Zeit ist, dass unsere Lebenszeit mit allen Höhen und Tiefen in seinen Händen liegt. Und gleichzeitig künden sie davon, dass in Gottes Ewigkeit unsere Zeitabschnitte und -unterteilungen keine Rolle spielen, sondern vielmehr komplett von seiner Herrlichkeit umfangen sind.

Lasst uns den Jahreswechsel ganz bewusst vollziehen, indem wir Gott um seine Begleitung bitten. Wir brauchen Zäsuren im Fluss der Zeit, um uns zu orientieren und um unsere Arbeitsprozesse und Lebensabschnitte zu ordnen. Dabei sollten wir jedoch darauf achten, dass der Zwang ständiger Zeitoptimierung uns immer weiter von Gottes erhabener Ewigkeit entfremdet. Für mich sind die Glocken in unseren Kirchtürmen ehrfurchtgebietende Zeitzeugen, die man weder beschleunigen noch gänzlich ihrer geistlichen Funktion berauben kann. Wer sie zum Schweigen bringt, beschneidet sich selbst um einen heilsamen Taktgeber, der Ruhe und Beständigkeit zugleich besitzt.

Mögen die Glocken uns feierlich und ehrfurchtsgebietend daran erinnern, wie sehr sich Gott auf diese Welt eingelassen hat und wie eng er bis heute bereit ist, sich in unsere täglichen Abläufe einweben zu lassen. Amen.