„Ihr gedachtet, es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.“ (1. Mose 50, 20)

Der kommende Sonntag ist in seinen Texten und Liedern der Pflege unserer Beziehungen gewidmet. Er steht unter der Aufforderung: Seid barmherzig! Wie wir es erfahren haben durch Gott, der uns Abweichungen von seiner Norm vergibt, die wir einsehen und gerne ungeschehen machen möchten, so sollen auch wir mit den Menschen in unserem sozialen Gefüge barmherzig sein. Wie das aussehen kann? Indem wir z.B. unbedachte Worte nicht nachtragen. Oder indem wir bereit sind, selbstsüchtige Handlungen anderer auszusöhnen, die zu unserem Nachteil geschahen.

Bei diesen Formen von Nachsicht oder Rechenschaftsverzicht betont die Bibel, dass es um das Wohl aller geht. Es handelt sich nicht um die Empfehlung, sich alles gefallen zu lassen. Als stünden diejenigen für sich schon Gott besonders nahe, die alles mit sich machen ließen. Ich verstehe diese Verhaltensempfehlung aus der Bibel vielmehr so: Lasst uns barmherzig sein, damit auch ich nicht nur im Groll lebe, sondern dass auch ich in einem Neuanfang in der Beziehung einen Vorteil habe: Z.B. in dem Vertrauen darin, dass es dem anderen auch besser ginge, wenn er mit mir im Reinen wäre. Oder in der Toleranz, dass es andere Lebenskonzepte neben dem meinen gibt und geben muss. Und in dem Vermögen, mich in die Bedürfnisse und Gefühle meines Gegenübers einzufühlen und seine oder ihre Sicht der Dinge als für ihn oder sie stimmig gelten zu lassen.

Das hat also nichts mit falsch verstandener Selbstaufgabe zu tun. Sondern mit Aufrichtigkeit. Und mit der Suche nach Verständigung, die meine eigenen Wahrnehmungen immer nur als einen Teil der gesamten Situation anerkennt. Eine Haltung, die meine eigenen Belange ebenso ernst nimmt, wie die meines Gegenübers.

Um diese Haltung anschaulich zu machen, bewahrt die Bibel die lange Lebensgeschichte von Josef auf. Als elfter Sohn Jakobs sticht er mit besonderen Persönlichkeitsmerkmalen aus dem Kreis der Patriarchen heraus. Es ist so zu sagen „das Käpsele“ der Familie. Das Kräftemessen mit seinen älteren Brüdern, die rein körperliche Arbeit bei den Tieren auf dem Feld, genügen ihm nicht. Sein Interesse ist geistiger Natur. Er hat einen wachen Verstand, ist wissbegierig und interessiert, sucht nach den Hintergründen und lernt, komplexe Zusammenhänge zu überblicken. Darum hält er sich als Junge auch eher bei den Zelten auf, wo er von den Erwachsenen alles aufschnappt, was die vorherige Generation an Lebensweisheit gesammelt hat – darunter nicht zuletzt den Glauben an den einen Gott, der auf seinen Urgroßvater Abraham und dessen Frau Sarah den himmlischen Segen legte.

Weil Josef von so anderer Natur ist als seine Brüder, ruht auf ihm das Wohlwollen und die Gunst seines Vaters Jakob. Das jedoch schürt den Neid seiner älteren Söhne. Und es kommt zur Katastrophe: Die Brüder laden große Schuld auf sich, als sie blind vor Hass und Zorn Josef erst in einen tiefen Brunnen werfen und dann über ihn das Todesurteil sprechen. Bevor es tatsächlich zum Brudermord kommt, zieht jedoch eine Karawane von Händlern vorbei. Kurzerhand wird Josef als Sklave verkauft. Ihrem Vater Jakob erzählen die Brüder, dass sein Lieblingssohn in der Wildnis von einem Raubtier angefallen und getötet worden sei. Über Jahre halten sie diese Lüge aufrecht.

Doch obwohl Josef nach Ägypten verschleppt wird, wo er schwere Prüfungen überstehen muss und dazwischen immer wieder auch gute Zeiten hat, kommt es nach Jahren zu einem Wiedersehen. Durch die Trauer und die anhaltende Verbitterung des Vaters sind die Söhne geläutert. Sie wollen ihm nicht noch einmal eine Todesnachricht überbringen müssen. Unter keinen Umständen. Und so bestehen sie ihrerseits die Prüfung, die Josef als Bevollmächtigter des Pharaos ihnen stellt. Sie zeigen sich solidarisch und setzen sich auch mit dem eigenen Leben füreinander ein.

Doch vor der schwersten Herausforderung steht Jakob selbst: Er muss einerseits persönlich noch ein weiteres Mal reifen, indem er lernt, über den eigenen Schatten zu springen und auf Vergeltung zu verzichten. Er muss der Versuchung widerstehen, sich willkürlich zu rächen. Ihm stünde alle Macht des Pharaos zur Verfügung. Die Leibwache des ägyptischen Königshofes würde seinem Befehl gehorchen und seine Brüder ins Gefängnis werfen. So wie sie ihn einst gedemütigt und seine Würde mit Füßen getreten hatten. Dagegen lernt er, zu vergeben.

Und andererseits reift sein Blick dafür, dass es wohl hinter seiner ganzen Lebensgeschichte einen göttlichen Plan gegeben haben muss. Es gab schreckliche Momente, seid er jäh aus der Unbeschwertheit seiner Jugend gerissen und aus der Heimat verschleppt worden war. Aber es gab eben auch die guten Stunden, in denen sein Glaube ihn getröstet hat und er aus seinem Vertrauen in Gottes Führung auch für andere eine starke Stütze wurde. Das ganze Volk der Ägypter konnte er vor der Hungersnot bewahren, weil er der Traumdeutung Gottes vertraut und diese mutig vor dem Pharao bekannt hat: „Nach sieben fetten Jahren kommen sieben dürre. Wer sie überleben will, muss vorsorgen. Such dir einen gottesfürchtigen und gebildeten Mann, der aus den sieben guten Jahren so viel Ertrag herausholen und so viele Vorräte anlegen lassen kann, dass für das ganze Volk gesorgt ist in den Zeiten der Not.“

Und nachdem er all das selbst verwirklicht hat, führt Gott die zwölf Brüder wieder zusammen und lässt Josef erkennen, dass die verschlungenen Wege seines Lebens nur einem Zweck dienten: „Am Leben zu erhalten ein großes Volk“. Das Volk der Ägypter und das Volk, aus dem seine Familie einmal erwachsen würde. Das erwählte Volk Gottes.

Wer weiß, wozu die Brüche in unserem Leben gut sind. Es wird immer notwendig sein, an irgendetwas zu wachsen. Die Aufgaben sind all die Jahre über zahlreich und enden nicht: Die ersten Sprach- und Gehversuche als Kleinkind. Soziales Lernen als Kind oder der Schulweg im Jugendalter. Das Erwachsenwerden und die Orientierung, welcher Beruf zu mir passt. Die Partnerwahl oder die Familienplanung. Dann das Älterwerden unter steigender beruflicher Verantwortung und die Sorge um die Erziehung der Kinder. Das gemeinsame Aushalten von Krankheit oder die Konfrontation mit den eigenen Grenzen. Das Auskosten von Glück und die Verarbeitung von Rückschlägen. Selbst im Sterben ist das lebenslange Lernen noch nicht zu Ende.

In jedem einzelnen Lebensabschnitt den roten Faden göttlicher Führung zu erkennen, ist in jeder dieser Situationen eine Herausforderung und Chance – vor allem für unseren Glauben. Beten wir darum, dass es jeweils auf jeder Entwicklungsstufe gelingt, dass wir an Lebensweisheit ebenso gewinnen, wie an Gottvertrauen. Darin helfe uns Gott.

Bleiben Sie behütet!

 

Bernhard Wielandt Gemeindepfarrer