Atme in uns, Heiliger Geist, brenne in uns, Heiliger Geist, wirke in uns, Heiliger Geist. Atem Gottes komm! Komm du Geist, durchdringe uns, komm du Geist, kehr bei uns ein. Komm du Geist, belebe uns, wir ersehnen dich. (Neue Lieder, Strube Verlag München 2018, Nr. 105)

Liebe Leserinnen und Leser,
Wie jedes Jahr feiern wir 50 Tage nach Ostern mit Pfingsten das Fest des Heiligen Geistes. Und keiner weiß so genau, was da gefeiert wird. Wer ist dieser Heilige Geist? Einfacher ist die Erklärung, dass an Pfingsten der Geburtstag der Kirche gefeiert wird. Das Pfingstereignis, das uns in der Apostelgeschichte erzählt wird, ist zum Gründungsmythos von Kirche geworden. Mit einem Brausen in der Luft und mit Feuerzungen, die in die Herzen der Jüngerinnen und Jünger eingehen, werden diese von Gott mit der Kraft des Heiligens Geistes erfüllt. Sie werden fähig die gute Nachricht von Jesus in allen Sprachen zu bezeugen. Die Rede des Petrus begeistert die Menschen sogar so, dass sich gleich 3000 Menschen taufen lassen. Doch von so einem beeindruckenden Erlebnis ist am Anfang der Geschichte noch nichts zu spüren. Die Jüngerinnen und Jünger sind zunächst allein. Jesus hat sie nach dem Ostergeschehen nun endgültig verlassen und ist wieder zu Gott (in den Himmel) zurückgekehrt. Nun fühlen sich die Jüngerinnen und Jünger verlassen, orientierungslos und wissen nicht, wie sie mit dieser neuen Situation umgehen sollen.

So ähnlich kann man die Lage der Evangelischen Kirche in Deutschland heute beschreiben. Es herrschen Trauer und Ratlosigkeit, Abschiedsstimmung. Denn es treten pro Woche über 5000 Menschen aus der evangelischen Kirche aus. Das tut weh. Es tut immer weh, wann man verlassen wird. Was kann man da tun? Nur wenige lehnen die evangelische Kirche ab, aber sie fühlen sich eben auch nicht als Teil von ihr. 60% der Befragten finden es grundsätzlich gut, dass es sie gibt. Trotzdem: Wenn wir, die wir noch Kirche sind, so weitermachen wie bisher, kann man sich ausrechnen, wann es dann keine evangelische Kirche in Deutschland mehr geben wird.

Warum brauchen die Menschen die Kirche nicht? Es gibt so viele Angebote und das Leben heute ist so komplex und bis oben angefüllt, verplant. Viele Menschen spüren zwar, dass ihr bis ins letzte durchgetakteter Alltag sie auslaugt. Sie sehnen sich danach Ballast abzuwerfen. Leerwerden und eine andere Fülle erfahren. Eine Fülle, aus der heraus die Energie fließt, zu leben. Eine Fülle, die so voll ist, dass sie einen geradezu überfließen lässt von Kraft, guten Ideen und Mitgefühl. Die christliche Antwort darauf ist die Bitte um den Heiligen Geist. Die Kraft des Heiligen Geistes verändert und verwandelt Menschen und Gemeinschaften. Sind wir vom Geist Gottes verlassen? Dieser Frage musss sich die Institution Kirche heute stellen. Denn es scheint, dass wir den Menschen nicht das Gefühl geben, dass sie bei uns willkommen sind. Dass sie bei uns Ballast abwerfen können. Kann es sein, dass wir als Kirche nicht selbst zu angefüllt sind mit eigenen Erwartungen und überkommenen Vorstellungen von Kirche? Müssen wir nicht erst einmal leerwerden, um neue Impulse aufnehmen zu können? Ist es nicht heilsam auszuatmen und sich von althergebrachten Vorstellungen und Konzepten zu verabschieden, damit es weitergehen kann? Dabei geht es uns nicht anders als den Freundinnen und Freunden Jesu damals. Wir trauern darüber, dass wir verlassen werden und müssen nur mal die Fenster aufreißen und Licht und Luft reinlassen. Wir trauern, dass das Modell von Gemeinde, das wir die letzten 70 Jahre gelebt haben, nur noch wenige Menschen anspricht, anstatt nach draußen zu gehen und den Menschen zu bringen wonach sie sich sehnen. Das Gefühl angenommen zu sein, das Gefühl vertrauen zu können, die Gewissheit getragen zu werden.

Mittlerweile ist der Schmerz groß genug, dass wir merken: Nicht die anderen müssen sich ändern, sondern wir. Wenn wir weiter trauern und uns in unseren Kirchen und Gebäuden lebendig begraben, und nicht nach dem Geist Gottes in der Welt suchen, dann können wir nichts verändern. Wir brauchen einen frischen Wind, der uns neues Leben einhaucht. Seien wir trotzdem realistisch. Es werden sich keine Massen taufen lassen. Die Kirche wird kleiner werden. Die demütige Einsicht, dass nicht wir es sind, die den Wandel herbeiführen, ist befreiend und entlastend. Wir dürfen uns mitnehmen lassen von der Kraft, die von Gott ausgeht. Es geht um eine Verwandlung in eine neue Form von Kirchesein in der Gegenwart. Aber: Wie kann das gehen mit weniger Kirchensteuermitteln, mit weniger Personal und Gebäuden? Anders gefragt: warum sollte es nicht gehen? Kirche als die Gemeinschaft derer, die sich auf Jesus Christus berufen, hat in den letzten 2000 Jahren mehrmals große Verwandlungsprozesse durchlaufen. Und wenn wir ganz genau hinschauen, ist immer irgendwo etwas im Wandel und meistens ist Wandel möglich, wenn eine Notlage eintritt und Bedürftigkeit zutage tritt. Das Leerwerden befreit und gibt Kraft neue Wege zu gehen. Dass sich etwas ändert, dazu brauchen wir Gottes Geistkraft, die in uns atmet und uns immer wieder neues Leben einhaucht. Atme in uns Heiliger Geist!
Ich wünsche Ihnen ein schönes Pfingstfest.

Ihre Natalie Wiesner, Pfarrerin der Evangelischen Kirchengemeinde Leimen

(Quelle: Anlässe und Motive des Kirchenaustritts, Pilotstudie der Evangelischen Landeskirche in Württemberg und der Evangelischen Landeskirche von Westfalen, Fabian Peters u.a., 2021 abgerufen am 18.05.2022 unter www.elk-wue.de/fileadmin/Downloads/Presse/Dokumente/2021/Anlaesse_und_Motive_des_Kirchenaustritts_-_erste_Befunde.pdf)