In der Auseinandersetzung mit dem Bau- und Verfahrensrecht im Prozess der Beantragung der Baugenehmigung stellen sich immer auch theologisch-konzeptionelle Fragen. Dabei decken sich einige unserer Überlegungen mit den bestehenden historischen Entwürfen zum „idealen“ evangelischen Sakralbau. Letztendlich geht es darum, nicht nur die rein funktionalen Notwendigkeiten zu formulieren, die wir an die künftigen Gemeinderäume in Größe, Anordnung und Ausstattung stellen. Sondern wir sind auch gefordert, unser zumindest denkmalrechtlich angezweifeltes Konzept mit Aussagen zur Gemeindepädagogik, mit liturgischen Bestandsaufnahmen sowie Leitbildern evangelischer Gottesdienstkonzepte oder Überlegungen zum Gemeindeaufbau zu unterfüttern.

Spannend fand ich in dem Zusammenhang einen Artikel des Kirchenhistorikers Dr. Gerhard Schwinge in der aktuellen Ausgabe der „Badischen Pfarrvereinsblätter (3-4/2019)“, der unser Bestandgebäude und unser Zukunftsvorhaben in einen kirchengeschichtlichen Zusammenhang stellt. Ich zitiere im Folgenden aus seinem Artikel – soweit die Aussagen für die Christuskirche relevant sind: „1861 hatte das sogenannte Eisenacher Regulativ neue Maßstäbe gesetzt. Es empfahl ein Langschiff mit Ostung, einen etwas erhöhten Chorraum, die Kanzel an einem Pfeiler des Chorbogens; gegenüber den Haupteingang, den Turm und die Orgelempore. In der Folge des Eisenacher Regulativs setzte sich auch im Kirchenbau der sogenannte Historismus durch, mit neugotischen Formen des äußeren Baukörpers. Ab etwa 1890 beeinflusste ein neues evangelisches Gemeindeverständnis auch den Kirchenbau und wandte sich damit gegen die romantischen, im Grunde katholischen Kirchenbauideale. Bereits 1881 und dann noch einmal 1889 hatte der sächsische Theologe Emil Sulze Thesen eines neuen „Gemeindeprinzips“ im Kirchenbau veröffentlicht und dann 1891 in seinem Buch „Die evangelische Gemeinde“ zusammengefasst. Darin heißt es: „Wir evangelischen Christen können nicht Priester, Opfer, Altäre, Tempel haben, sondern nur sein. Eine evangelische Kirche darf also nur Gemeindehaus sein. Die Gotik ist dazu ungeeignet.“ Bisher beim Kirchenbau nicht üblich, sollen nun auch das Pfarrhaus und gemeindliche Nebenräume für die Verwaltung, für den Unterricht, für Mitarbeiter, für den geselligen Verkehr der Gemeindeglieder mitgeplant werden, weil „die Gemeinde als Familie sich einen soll“; auch sind eine Beheizung der Kirche und Garderoben (und WCs) vorzusehen. – Der ehemals badische, dann Wiesbadener Pfarrer Emil Veesenmeyer und der Berliner Architekt Johannes Otzen griffen die wesentlichen Gedanken Sulzes 1891 beim Bau der Ringkirche in Wiesbaden auf und entwickelten als eine „Reform im protestantischen Kirchenbau“ das sogenannte Wiesbadener Programm. Das Wiesbadener Programm von 1891/92 wurde zwar nirgends präzise formuliert und offiziell verabschiedet, fand jedoch schnell weite Verbreitung. Seine beste Zusammenfassung formulierte Richard Bürkner 1899; bei ihm heißt es: 1. Die Kirche soll im Allgemeinen das Gepräge eines Versammlungshauses […] an sich tragen. 2. Der Einheit der Gemeinde und dem Grundsatze des allgemeinen Priestertums soll durch die Einheitlichkeit des Raumes Ausdruck gegeben werden. […] 3. Die Feier des Abendmahls soll sich nicht in einem abgesonderten Raume, sondern inmitten der Gemeinde vollziehen. Der mit einem Umgang versehene Altar muss daher, wenigstens symbolisch, eine entsprechende Stellung erhalten. […] 4. Die Kanzel, als derjenige Ort, an welchem Christus als geistliche Speise der Gemeinde dargeboten wird, ist mindestens als dem Altar gleichwertig zu behandeln. […] Daraus ergibt sich die Achse der sogenannten Prinzipalien innerhalb eines Zentralbaus: […] Diese Konzeption entspricht mehr dem reformierten als dem lutherischen Kirchenverständnis: der Grundsatz des allgemeinen Priestertums anstelle eines pfarrherrlichen Amtsbewusstseins, entsprechend die Betonung der gemeindebezogenen Einheitlichkeit des auf eine Mitte zentrierten Raumes anstelle der Trennung in ein langes Kirchenschiff für die Gemeinde und einen erhöhten Altarraum für den Liturgen, das Abendmahl als Gemeinschaftsmahl und die Aufwertung der Kanzel und damit der Predigt. Beim Lesen dieses Artikels staunte ich über die Parallelität unserer aktuellen Gedanken zur Neukonzeption unserer Gemeinderäume mit der historischen Entwicklung. Unser vorhandenes Kirchenschiff bildet das Eisenacher Regulativ in Reinform ab. Was wir künftig in und um den Sakralraum verändern wollen, deckt sich in vielem den konzeptionellen und theologischen Überlegungen zum evangelischen Sakralbau des Wiesbadener Programms, das 25 Jahre nach der Einweihung der Sandhäuser Christuskirche 1866 in Mode kam. Spannend wird es sein – wenn wir denn dafür die Genehmigung bekommen -, einen baulich und ästhetisch stimmigen Wechsel zwischen diesen beiden programmatischen Alternativen im evangelischen Sakralbau hinzubekommen.

Mit herzlichen Grüßen, Bernhard Wielandt, Pfr.